Jesu Rede vom »Balken im Auge« (vgl. Matthäus 7,3) ist ja schon sprichwörtlich geworden und bezieht sich auf eine Haltung, bei der ich selbst meine, den klaren Durchblick zu haben und deswegen andere zurechtweisen zu können. Was ich aber beim anderen entdecke – das ist ja die Pointe dieses Bildworts, findet sich in viel größerem Maße bei mir selbst.
Wie immer bei Beispielen und Bildworten haben diese ihre Grenzen. Würde man es zum allgemeinen Maßstab allen Handelns machen, wäre die Durchsetzung von Regeln, die das Zusammenleben sichern, nicht mehr möglich. Ich könnte einen Dieb nicht mehr dafür kritisieren, dass er fremdes Eigentum gestohlen hat, weil ich mich zuerst um meine eigene Schuld kümmern müsste. Das wäre aber natürlich Irrsinn.
Was ich von diesem Wort aber schon lernen kann, ist, dass meine Sicht immer nur einen Teil der Wirklichkeit einfängt, dass es sich lohnt, noch einmal mit den Augen eines anderen auf das Ganze zu schauen, ins Gespräch zu kommen, zu hören und nicht vorschnell zu urteilen. Mancher Balken, manches Vor-Urteil, manche Perspektive, die sich aus meiner kulturellen Prägung ergibt, versperrt mir bestimmte Bereiche der Gesamtsicht.
Und ja, es ist damit zu rechnen, dass bisweilen der andere im Gegensatz zu mir nur einen Splitter im Auge trägt und klarer sieht, als ich das kann. Von ihm oder ihr möchte ich gerne lernen.