Splitter und Balken

Jesu Rede vom »Balken im Auge« (vgl. Matthäus 7,3) ist ja schon sprichwörtlich geworden und bezieht sich auf eine Haltung, bei der ich selbst meine, den klaren Durchblick zu haben und deswegen andere zurechtweisen zu können. Was ich aber beim anderen entdecke – das ist ja die Pointe dieses Bildworts, findet sich in viel größerem Maße bei mir selbst.

Wie immer bei Beispielen und Bildworten haben diese ihre Grenzen. Würde man es zum allgemeinen Maßstab allen Handelns machen, wäre die Durchsetzung von Regeln, die das Zusammenleben sichern, nicht mehr möglich. Ich könnte einen Dieb nicht mehr dafür kritisieren, dass er fremdes Eigentum gestohlen hat, weil ich mich zuerst um meine eigene Schuld kümmern müsste. Das wäre aber natürlich Irrsinn.

Was ich von diesem Wort aber schon lernen kann, ist, dass meine Sicht immer nur einen Teil der Wirklichkeit einfängt, dass es sich lohnt, noch einmal mit den Augen eines anderen auf das Ganze zu schauen, ins Gespräch zu kommen, zu hören und nicht vorschnell zu urteilen. Mancher Balken, manches Vor-Urteil, manche Perspektive, die sich aus meiner kulturellen Prägung ergibt, versperrt mir bestimmte Bereiche der Gesamtsicht.

Und ja, es ist damit zu rechnen, dass bisweilen der andere im Gegensatz zu mir nur einen Splitter im Auge trägt und klarer sieht, als ich das kann. Von ihm oder ihr möchte ich gerne lernen.

Geduld und Zeit

Geduld hat nicht unbedingt Hochkonjunktur in unseren Tagen. Im Versandhandel können Artikel über Nacht bestellt werden. Über die unterschiedlichen Kommunikationskanäle kann ich ohne Zeitverzug mein Anliegen und meine Informationen zum Empfänger transportieren.

Dass das noch nicht lange der Fall ist, fällt mir immer wieder dann auf, wenn ich an die Anfänge meiner Beziehung zu meiner Frau zurückdenke, die kurz, nachdem wir zusammengekommen waren, zu einem freiwilligen Jahr nach Südafrika aufbrach. Telefonieren war maximal einmal in der Woche drin – alles andere konnten wir uns nicht leisten. Dann blieb nur noch der Brief als Kommunikationsmedium. Und der brauchte bis her von dort nach hier kam oder andersherum. Und brauchte auch länger, um die Worte und Gedanken zu Papier zu bringen Geduld war gefragt.

Ähnlich geht es Landwirten, die das Wachstum der Pflanzen auf den Feldern nur in geringem Umfang beschleunigen können. Es braucht eben seine Zeit. Da ist Geduld gefragt.

Wenn ich an manche E-Mail denke, die ich vor Ärger schnell in die Tasten getippt habe, habe ich den Eindruck, dass es gar nicht so verkehrt wäre, wenn ich denselben Text mit Hand hätte schreiben müssen, wenn ich dann auf die Suche nach einem Briefumschlag gegangen wäre und dann noch irgendwo eine passende Briefmarke hätte hervorkramen müssen, bevor ich mich auf den Weg zum Briefkasten begeben hätte. Gut möglich, dass dann der Ärger schon verraucht gewesen wäre – ein Luxus, den ich heute in Zeiten von E-Mail und WhatsApp und ähnlichem nicht mehr habe (oder ihn mir nicht mehr nehme).

Zeit kann helfen, meine Gedanken zu sortieren und nicht vorschnell zu agieren. Geduld ist nötig, wenn ich weiß, dass Christenmenschen zwar um Christi willen gerecht gesprochen sind, sie aber immer noch auf dem Weg sind, diese Wirklichkeit auch im Leben einzuholen. So wie Gott sich den Menschen gedacht hat, bin ich eben noch nicht – und meine Mitchristen auch noch nicht. Da ist Geduld gefragt und kein vorschnelles Abschreiben oder Grenzenziehen.

Gar nicht so einfach in unserer Zeit, aber doch so notwendig.

Behutsamkeit und Segen

Schaut man, wo sich das Wort »Behutsamkeit« direkt oder indirekt in der Bibel findet, stößt man schnell auf den Aaronitischen Segen in 4. Mose 6,24-26, der in der Lutherübersetzung mit den Worten beginnt »Der HERR segne dich und behüte dich«. Segen hat also offensichtlich auch mit dem Behüten zu tun. Gott sagt sich denen, die gesegnet werden, in der Weise zu, dass er auf sie aufpasst, sie behütet und gerade so behutsam mit ihnen umgeht. Segen kann wachsen und gedeihen, wo Menschen sich sicher fühlen, beschützt vor dem, was ihnen Angst macht. Hier werden Machtgefälle nicht schonungslos ausgenutzt, und Schwache, Gescheiterte und im Leben Verbeulte werden nicht einfach abgewickelt. So, wie es später im Buch des Propheten Jesaja vom Knecht Gottes heißt: »Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.« (Jesaja 42,3).

Eine behutsame Theologie wäre dann eine solche, die eintritt in die Bewegung eines solchen Segenshandelns Gottes, die Menschen schützt und bewahrt, und etwas von dem leuchtenden Angesicht spiegelt, von dem im Aaronitischen Segen am Ende auch noch die Rede ist.