Behutsames Umsteuern

Wenn ich darüber nachdenke, wie es aussehen könnte, »behutsam lutherisch« zu sein, dann gerät auch der Umgang mit dem in den Blick, was einer Kirche als Tradition anvertraut ist. Es ist völlig klar: Kirche und Glaube sind keine statischen Gebilde. Auf einem verlässlichen Fundament wird es immer wieder auch Neujustierungen geben (und hat es auch immer gegeben). »Behutsam lutherisch« zu sein, würde mich dann aber bedeuten, achtsam mit den überkommenen Richtungsentscheidungen umzugehen. Fahranfänger neigen bisweilen dazu, hektisch und übermäßig gegenzusteuern, wenn sie das Gefühl haben, sie müssten ihren Kurs korrigieren. Erfahrene Autofahrer agieren häufig behutsamer und minimieren so die Gefahr, völlig aus der Bahn geworfen zu werden.

Behutsam mit der eigenen kirchlichen Tradition, ihren Richtungsentscheidungen und Festlegungen umzugehen, bedeutet dann auch, Menschen, die als Christinnen und Christen im Umgehen mit Gottes Wort um ihren Weg und den Weg der Kirche gerungen haben, wertzuschätzen und auch ihnen gegenüber lernfähig zu bleiben, ohne komplett auf Neuausrichtungen verzichten zu wollen und zu können.

Stückwerk

Luther übersetzt die Überlegungen des Apostels Paulus in 1. Korinther 13,9 so, dass unser Wissen »Stückwerk« sei. Nun wird man dies nicht im Sinne eines neuzeitlichen Relativismus und Konstruktivismus verstehen dürfen, der dem Apostel sicherlich fremd wäre, da er in einer völlig anderen Denkwelt gelebt hat.

Aber ein gewisses Maß an Demut lehrt mich diese Erkenntnis doch und spiegelt ja gleichzeitig auch mein eigenes Erfahren. Ich habe immer nur eine eingeschränkte Perspektive auf Phänomene, kann niemals behaupten, alles zu wissen, alles im Blick zu haben und angemessen einschätzen zu können. Gerade deswegen bin ich auf Gespräche und die Weitung meines eigenen Horizonts angewiesen.

Wie kann das für Kirche gelingen, dass sie einerseits an dem festhält, was sie als richtig und wichtig erkannt hat, andererseits aber auch den Blick behält für die Grenzen ihres Wissens und ihrer Einschätzungen, dass auch sie lernfähig bleibt?

Vielleicht so, dass sie diese Worte des Apostels Paulus nicht vergisst.

Begeisterung als ambivalentes Phänomen

Begeisterung kann etwas Wunderbares sein. Wenn jemand mir begeistert von dem erzählt, was er oder sie erlebt hat oder woran ihr Herz hängt, dann kann das ansteckend wirken. Vielleicht interessiere ich mich auch dann auch dafür. Das klingt so toll, dass ich mir das nicht entgehen lassen möchte. Es ist aber nur ein schmaler Grad. Leicht kann es auch »umkippen«: Wenn mein Gegenüber geradezu penetrant immer wieder seine Begeisterung teilt – selbst dann, wenn ich längst signalisiert habe, dass ich sie nicht teile. Noch schlimmer ist und wäre es, wenn ich dann sogar noch bedrängt werde. Wahrscheinlich würde ich mich dann zurückziehen.

In theologischen Zusammenhängen haben wir es mit einem ähnlichen Phänomen zu tun. Alles beginnt mit der Begeisterung über Gottes Handeln. Und das hat ansteckend gewirkt. Immer wieder – über die Jahrhunderte hinweg. Aber es ist eben auch immer wieder gekippt. Aus dem Teilen der Begeisterung wurde eine bedrängende Haltung, weil die frohe Botschaft doch so gut sei, dass man sie teilen muss.

Dies immer wieder zu unterscheiden, was es bedeutet, Begeisterung mit Respekt für den anderen zu teilen, ohne andere zu bedrängen, scheint mir auch wesentlich für eine behutsame lutherische Theologie zu sein.